Glasklar und bundesrein durchs hohe Haus

Vor einer Woche habe ich's wieder mal getan. Das, was viele Schweizerinnen und Schweizer irgendwann im Leben tun – und sei es nur zwangshalber auf einer Schulreise. Das, was bei persönlichen Gästen von Politikerinnen ehrfürchtiges Staunen auslöst. Das, was in einschlägigen Reiseführern den Touristen aus aller Welt wärmstens empfohlen wird. Ich habe an einer offiziellen Führung durchs Bundeshaus teilgenommen.

Glasklar und bundesrein (Foto: Ronny Kummer)
Glasklar und bundesrein (Foto: Ronny Kummer)

Klar, in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten war ich oft im Bundeshaus – als Zuschauer auf der Tribüne, als Sitzungsteilnehmer oder als Gast von kulturellen und anderen Veranstaltungen. Aber eine Führung? Die ist Jahre her. Wahrscheinlich war das irgendwann in den Achtzigern, damals als Bundesrat Kurt Furgler nach einer diffamierenden Rede von Neo-Nationalrat Markus Ruf ans Rednerpult schritt und sagte: «Ich passe mich dem Niveau Ihrer Frage an und stelle das Pult tiefer» (Youtube-Link). Es war die Zeit, als in der Fernsehwerbung noch gereimt wurde: «Ajax Glasrein – macht Fenster klar wie unsichtbar». Und es war auch die Zeit, als man noch unkontrolliert einen Sack Dynamit ins Bundeshaus tragen konnte.

 

Jedenfalls hatte ich seit jener Führung in den Achtzigern vieles wieder vergessen. So wusste ich nicht mehr, dass auf den vier Fenstern der Bundeshauskuppel symbolisch die Berufe der jeweiligen Himmelsrichtung und Landesgegend dargestellt werden und die Architektur des Ständeratssaals an die frühzeitlichen Ratssäle in der Alten Eidgenossenschaft erinnern soll. Dies und vieles mehr erfuhr ich auf der einstündigen Führung durch das Bundeshaus. Aber so richtig Eindruck machte mir erst ein Stillleben im Nationalratssaal: eine Flasche Glasreiniger, eine Zange, drei Kabelbinder und eine Rolle Haushaltpapier. «Ronny soit qui mal y pense», dachte ich mir, drückte auf den Auslöser und ging wieder zurück zur Gruppe. 

 

Etwas später auf der Bundesterrasse ging mir das Stillleben auf dem Nationalratspult nicht mehr aus dem Kopf. In Gedanken streifte ich durch die Jahrzehnte und stellte mir dabei folgende Fragen:

 

Wie oft wohl müsste heute ein Bundesrat oder eine Bundesrätin – letztere gab's damals noch nicht – das Pult tiefer stellen? Heisst «Ajax Glasrein» heute «Ajax Streifenfrei», weil man sich in Sachen Transparenz nicht so glasklar festlegen will? Haben Zange und andere noch brachialere Werkzeuge die feine rhetorische Klinge abgelöst? Wozu dienen die Kabelbinder? Und was genau soll wohl mit dem Haushaltspapier vom Tisch gewischt werden?

 

 

PS: Am Pult mit dem Stillleben sitzt während der Sessionen eine Nationalrätin aus der politischen Mitte, was für meine Geschichte jedoch ohne Belang ist.